Der unschuldige Kindertag Eine Geschichte aus längst vergangener Zeit.

Der unschuldige Kindertag Eine Geschichte aus längst vergangener Zeit.

Es war Weihnachtszeit, vor vielen Jahren.

Aals unsere Oma, meine Schwester und mich am 28. Dezember 1971 um 5 Uhr in der Früh aus dem warmen Betten holte, war es im Zimmer eiskalt. Der kleine Holzofen im Zimmer war um diese Zeit nicht geheizt. Deshalb waren auch die Fensterscheiben mit wunderbaren Eisblumen bedeckt. Da half auch keine zweite Fensterreihe, die im Winter immer eingehängt wurde.

 

Heute war ein besonderer Tag. Es war der „Tag der unschuldigen Kinder“. Am Tag der unschuldigen Kinder, dem 28. Dezember, ziehen traditionell die Kinder von Hof zu Hof und wünschen mit Zweigenschlägen, dem Schappen, Gesundheit und Glück für das neue Jahr.

 

Da wir Stundenlang durch Schnee und Kälte marschieren werden, war für mich auch die lange Unterhose diesmal kein Thema. Dazu kamen die von Mutter und Oma selbstgestrickten Pullover, Hauben , Fäustlinge und Schals. Da unsere Mutter zu dieser Zeit in Graz bei Humanic arbeitete, brauchten wir uns um warme Füße auch keine Sorgen machen.

 

Als erstes holten wir unsere Weidenruten. Die hatte unser Großvater schon einige Tage vorher für uns vorbereitet. Und so kam die Oma als erstes in den Genuss des auf dem Hintern klopfen.  Dazu kam der Spruch:

 

„Frisch und g’sund, frisch und g’sund,

lang lem und g’sund bleim,

und nix klong,

bis i wieder kum schlong.“

 

Dafür gab es dann auch 5 Schilling für die Sparefroh-Sparbüchse. Anschließend kam unser Vater, der im Nebenraum noch schlief, an die Reihe. Decke weg und „Frisch und gsund“. Dann war der Großvater an der Reihe. Der befand sich noch im Rinderstall beim Füttern und Melken der Kühe. Er konnte natürlich auch beurteilen, wie seine Weidenruten wirkten. Wahrscheinlich war er damit sehr zufrieden, denn er gab uns je 10 Schilling.

 

Zum Schluss kam unsere Mutter an die Reihe. Die stand in der Küche und machte für uns das Frühstück fertig. Natürlich mit der frischen Milch der Kühe, also mit viel Rahm. Mit Bensdorpkakao und Lindekaffee.

 

Wer sich noch erinnern kann.

 

Lange Zeit war um 1970 der Bensdorp-Riegel – massesparend mit Rillen – für 1 Schilling die kostengünstigste Portion Schokolade in Österreich. Es gab sie in den Sorten Milchschokolade ohne (blau bedruckte Papierschleife über Aluminiumpapier-Umschlag) und mit Nüssen (grün). Die dickeren, schmäleren, schwereren Riegel gab es in einigen Sorten mehr, etwa auch als Bitterschokolade oder gefüllt um 2 bis 2,50 Schilling. Und das 125 g alkalisiertes Kakaopulver gibt es seit zumindest 1960 in der blau-rot bedruckten Faltschachtel mit eingeklebtem Papiersack. Das Markenzeichen darauf ist seit damals das Profil eines Frauenkopfs mit holländischer Trachtenhaube. Diesen Kakao habe ich bis heute in meiner Küche stehen.

 

Und dann gab es die Figuren in der Lindekaffeepackung. Das war schon für uns Kinder sehr wichtig, diesen Kaffee zu kaufen. Lange vor Playmobil, Barbie oder Legofiguren gab es die Indianer, Cowboys, Ritter und andere Haudegen als Figuren zum Aufstellen. Über die Jahre kam eine ansehnliche Sammlung zusammen und sie standen überall auf den Fensterbänken.

 

Einigen wird er noch ein Begriff sein, Linde Kaffee, ein Ersatzkaffee. Um ihn besser zu verkaufen, wurden in den Packungen zwischen den 1950er und 70er Jahren Spielfiguren für Kinder versteckt. Dieses Marketingkonzept ging auf. Diese Figuren werden heute in den Verkaufsplattformen wie „eBay oder Will haben“ teuer ver- und gekauft. Weiters gibt es in Kärnten auch ein Museum für etwa 6000 Lindefiguren.

 

Es gab auch noch die Franckwürfel als Kaffeeersatz. Nach der Tradition von Heinrich Franck Söhne sind in Linz das Franckviertel und die Franckstraße benannt.

 

Da aber heute ein besonderer Tag war, gab es auch etwas Bohnenkaffee. Aber erst, nachdem ich die Kaffeebohnen mit der Kaffeemühle gemahlen hatte. Da wir unsere Milch an den Milchhof in Graz lieferten, bekamen wir von dort auch Butter und Käse. Und diese Köstlichkeiten gab es zu Kakao und Kaffee. In der Küche gab es außer dem E-Herd, keine elektrischen Küchengeräte.

 

Nach so einer Stärkung ging es los. Es war klirrend kalt, als wir vor das Haus traten. Von rechts hörten wir den Rötschbach rauschen und von der linken Seite hörte man das Rauschen unseres Mühlbaches mit seinen 2 Wasserrädern. Durch das spritzende Wasser bildenden sich überall Eiszapfen. Und die funkelten im Mondlicht. In 3 Tagen sollte es ja den Wolfsmond geben. Der erste Vollmond im Jahr. Da mein Vater Müllermeister war, hatte ich das Vergnügen in einer Mühle  aufzuwachsen. Der Haus- oder Vulgoname  war auch „Schmollmühle“. Leider wurde sie 3 Jahre später, infolge des Neubaus der Landstraße abgerissen. Viele Teile der Mühle kamen in das wenige  Kilometer entfernte Freilichtmuseum Stübing. Und mein Vater ging dann in die Fabrik arbeiten.

 

Da zur damaligen Zeit die öffentliche Schneeräumung noch nicht gut organisiert war, marschierten wir einige Meter auf der zugeschneiten Landstraße, bis wir zum Zugang zur Forststraße kamen.  Jedenfalls war es im Winter keine Besonderheit, wenn der linienmäßige Schnauzenbus der Post zu spät kam, weil der Fahrer immer wieder die Schneeketten an- und ablegen musste. Das waren noch die Busse mit dem Lederriemen bei der Tür, damit sie der Fahrer zuziehen konnte.  Und die verschneiten Straßen wurden noch von den sogenannten Wegmachern per Hand gestreut.

 

So stapften wir dann etwa 45 Minuten im Pulverschnee bergan. Es war ein unheimlicher Spaziergang im tiefverschneiten Wald, da mir die Geschichte von Hänsel und Gretel durch dem Kopf ging. Zwischendurch hörte man ein Krachen und Rauschen, wenn der Schnee von den Bäumen fiel oder rieselte. Auch 2 Wildwechsel querten unseren Weg. Ich konnte mit den vorhandenen Tierspuren nichts anfangen. Vielleicht wenn es nur die Spuren von Reh und Bär oder Hase und Pferd gewesen wären, hätte ich sie deuten können.

 

Wir waren heilfroh, als wir aus dem Wald auf die Lichtung traten und auf der Anhöhe das Licht des Brettlbauers sahen, das erste Gehöft auf unserer Tour. Hier kündigte sich das nächste Problem in dieser Zeit an. Dieser Bauer hatte noch seinen Kettenhund. Der war zwar durch seine Kette in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt, ich konnte und wollte das aber nie so richtig glauben. Bis zur Haustür des Bauernhauses kam er aber immer. Er biss zwar nicht, aber durch sein bellen und kläffen und sein zerren an der Kette, flößte er mir sehr viel Respekt ein. Zum Glück war die Bäurin im Kuhstall und so konnten wir beim Kettenhund vorbei. Die Brettlbäurin war schon einige Jahre Witwe, da ihr Mann bei der Heuernte vom Blitz erschlagen wurde. Und so bewirtschaftete sie den Hof zusammen mit einem Knecht. Der Heinerl oder Heini, wie er genannt wurde. Und auf dem hatte ich es besonders abgesehen.

 

Da wir damals in der Gegend die Ersten mit einem Fernseher waren, kamen öfters die Nachbarn zum Schauen. Beim Schauen blieb es aber nie, sondern es wurde auch viel geredet und der Heinerl war der Ärgste. Laufend quasselte er irgendetwas und stellte ständig fragen. Jedenfalls war es Samstagabend bei Heinerls Besuch einer Folge von „Wünsch dir was“ oder  „Der goldene Schuss“ nicht zu folgen.

 

Für die Jüngeren unter uns. Wir hatten keine Satellitenschüssel  oder einen Kabelanschluss zum Fernseher. Wir hatten zwei Riesenantennen für FS1 und FS2 am Dachboden. Und wenn das Wetter schlecht war, sahen wir nur Schneetreiben am Bildschirm und hofften immer, das wenigstens der Ton bleibt. Weiters musste man aufstehen, wenn man das Programm wechseln wollte. Bei zwei Sendern kam das aber nicht so oft vor. Der Fernseher hatte dementsprechend auch nicht so viele Knöpfe. Und ein Programm vor 18 Uhr gab es ja auch nicht. Außer am Mittwoch, da kam um 17 Uhr immer der Kasperl. Und nach Sendeschluss, auch das gab es damals noch, wurde immer die Bundeshymne gespielt. Dann kam das Testbild. Das brauchte man, um die 2 Sender einzustellen. Das funktionierte mit Hilfe mehrerer Personen und über zurufen.

 

Jedenfalls war heute Heinrichs Tag. Er wusste es nur nicht. Er durfte sich 4 Mal das Sprüchlein „Frisch und gsund“ anhören. Natürlich mit der entsprechenden Züchtigung. Aber mehrere lange Unterhosen dämpften sicher die Schläge. Auch die Brettlbäurin bekam das Sprüchlein zu hören. Und dann zeigte sie uns, wofür sie bei uns Kindern so beliebt war. Sie konnte nämlich während des Kuhmelkens die Milch in die Mäuler der vor ihr sitzenden Katzen spritzen. Ihre 4 Katzen wussten das auch und so waren sie beim Melken immer mit weit aufgerissenen Mäulern dabei.  Dann ging es in die warme Stube und es gab Tee und Kekse. In der Stube stand der Holzofen mit dem Wasserschiff zum Aufwärmen des Wassers. So hatte man immer warmes oder heißes Wasser in der Küche. Am Wasserschiff war eine Haltestange für die verschiedenen Schöpferangenietet. Da ich von vorigen Besuchen am Gehöft oft mitbekam, wie Heinerl seine Hände in dieses Wasserschiff tauchte, war ich vom Tee nicht sehr erfreut. Außerdem legte er immer seinem Löffel, den er vorher in seiner Schürze abwischte, auf die Fensterbank. Der Löffel teilte diese Fensterbank mit den Katzen. Aber das war nun diese Zeit.

 

Nachdem wir uns beim Hund vorbeigeschlichen hatten marschierten wir einige hudert Meter auf einer tiefverschneiden Anhöhe zum nächsten Bauern. Auch der Joglbauer hatte einen Kettenhund. Da die Kette dieses Hundes an einem Drahtseil hing, dass über dem Hof gespannt war, hatte er eine große Bewegungsfreiheit. Zum Glück kannten wir den Hausbrauch und kamen über die Hintertür ins Haus und die Stube. In dieser Stube hatte der Bauer noch sein warmes Bettlager beim Ofen.

 

Jedenfalls herschte schon reges Treiben im Haus. Hier war schon alles für das große Brotbacken vorbereitet. Der große Trog zum Kneten und die geflochtenen Brotkörbe standen herum und die Brotschieber, zum Einschießen und Herausholen des Brotes aus dem Ofen, hingen an der Wand.

 

Nach unserer Aufgabe des „Frisch und Gsundschlagens“ freuten wir uns schon auf das Kletzenbrot. Die Joglbäurin machte das beste Kletzenbrot in der Gegend. Es ist kein Vergleich mit heutigen Früchtebroten. Dazu gab es den Lindenblütentee. Wir bekamen eigentlich überall einen Lindenblütentee. Alle Bauern hatten neben Nuss- und Obstbäumen auch noch den Lindenbaum. Ob es nun die Sommer- oder Winterlinde war, weiß ich heute nicht mehr. Jedenfalls wurden die Blätter gesammelt, getrocknet und in trockener Umgebung aufbewahrt.

 

Am Hof arbeiteten die 2 behinderten Brüder des Bauern als Knechte. Der Sepp und der Bertl. Sie konnten sich nur sehr schwer artikulieren und beide hatten einen Kropf. In der damaligen Zeit war das keine Seltenheit. Sepp und Bertl waren sehr angenehme und sehr fleißige Männer, die auch bei anderen Bauern aushalfen. Als meine Eltern 1974 das neue Haus bauten, war Sepp fast immer bei uns. Sehr zum Missfallen des Joglbauers. Bei uns bekam Sepp sicher mehr bezahlt! Sepp und Bertl hatten ein Markenzeichen. Die große gebogene Pfeife und der Tabakbeutel. Das Klischee, das solche Pfeifen in Zahnlücken stecken, traf bei den beiden ins Schwarze. Bertl hatte ein weiteres Problem. Da er einen eigenartigen, schlurfenden Gang hatte, wurde er von allen Hunden angefallen. Deshalb sah man oft nur Sepp alleine durch die Gegend wandern. Oft am Sonntag, da marschierte er zum Wirt und holte 2 Packungen Tabak.

 

Die Bäurin gab uns je einen halben Laib ihres Kletzenbrotes und wir machten uns wieder auf den Weg. Jetzt mussten wir wieder durch einen Wald und wieder ins Tal hinabgehen um zum nächsten Hof zu kommen.  Auf dieser Strecke kamen wir zu einen weiteren Weg, der in den Schuttigraben führte. Rauschend schoss der Schuttibach aus dieser Schlucht. Weit hinten im Graben stand die halbverfallene Schuttimähle.

 

Das diese Gegend für uns unheimlich und verflucht war, hing mit unserem Großvater zusammen. Er kannte als Holzknecht sehr viele Geschichten und auch sehr viele Spukgeschichten. Jedenfalls bin ich mit dem Großvater den Schuttigraben im Jahr 2 mal durchmarschiert. Auch bei der Schuttimühle vorbei. 2 Mal im Jahr gingen wir mit einer Kuh am Strick zum Stier. Es war der kürzeste Weg durch den Schuttigraben. Und da erzählte mir der Großvater seine Schauergeschichten, die sich rund um die Mühle zugetragen haben sollen. Jedenfalls sollen dort Wilderer 2 Jäger erschlagen und dann hinter der Mühle vergraben haben. Die Wilderer hat man nie erwischt. Aber dort, wo man die toten Jäger gefunden hat, soll es immer wieder vorkommen, dass dort kerzen brennen und sie auch bei Regen oder Sturm nicht verlöschen. In Vollmondnächten soll man ein Wimmern und Jammern vernehmen und ganz schlimm soll die wilde Jagd hier durchziehen. Jedenfalls hatte mein Großvater sein größtes Vergnügen beim Erzählen solcher Geschichten. Ich bin diesen Graben als Kind nie alleine gegangen und später auch nie.

 

Uns war diese Gegend unheimlich und deshalb schauten wir, dass wir schnell von hier wegkamen und waren froh, als wir beim nächsten Bauern ankamen. Es war der Vorletzte auf unserer Runde und schnell marschierten wir dann weiter. Beim letzten Bauern bekamen wir in unseren Tee immer einen Schuss Schnaps. Der sollte uns auf dem Heimweg wärmen. Was er auch tat.

 

Wir kamen um die Mittagszeit, zwar erschöpft und müde aber glücklich,  wieder zu Hause an und präsentierten stolz unsere Mitbringsel. Das Geld für den nächsten Weltspartag und die kulinarischen Beigaben für den Rest der Weihnachtszeit. Ich bin dann noch 3 mal diese Runde gegangen und dann fühlte ich mich schon zu alt (oder zu groß) dazu.

 

Leider verlieren diese Bräuche immer mehr an Bedeutung und werden von eingeschleppten Sitten wie „Helloween“ abgelöst. Obwohl beim Tag der unschuldigen Kinder mit Ruten zugehauen wurde und wird, hat niemand einen bleibenden Schaden davongetragen. Und auch Heinerl ist im Frühjahr wieder auf seiner blauen Puch DS gesessen. Sicher haben die langen Unterhosen geholfen.

 

© 2023 by Gerhard Hojas

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