Nachdem durch die Geiselnahme in Moskau der
Thschetschenien-Konflikt mal wieder in die Presse gekommen ist, will ich doch
einmal kurz die historischen Hintergründe aufschreiben.
Damit wir uns richtig verstehen, ich möchte hier nicht das "böse
Russland" dem "unterdrückten Tschetschenien" gegenüberstellen
oder gar irgendwelche Terrorakte zu entschuldigen, ich habe einfach ein paar
Fakten gesammelt um die Situation zu verdeutlichen.
Allgemeines
Tschetschenien (bzw. die Tschetschenische Republik Itschkeria) ist mit einer Größe von ca. 18000 km2 etwa so groß wie Schleswig-Holstein.
Die Tschetschenen nennen scih selbst "Nachtschi".
In Tschetschenien leben ca. 1,2 Millionen Menschen, davon 1 Million Tschetschen, der Rest sind Russen, Inguschen und andere Nordkaukasier.
Der Kaukasus ist ein ca. 1200 km langes und bis zu 200 km breites Hochgebirge. Die höchste Erhebung ist der Elbrus mit 5642 m
Der Kaukasus wird häufig als "Berg der Sprachen" bezeichnet. Auf einem Gebiet von etwa 440.000 Quadratkilometern leben über 40 verschiedene Volksstämme.
Krisenherde im Kaukasus
Geschichte
Kaukasien war eine Völkerbrücke zwischen südrussischer Steppe und Vorderasien und wurde stark von den Assyrern, Persern, Römern, Byzantinern und Arabern beeinflusst. In dem Gebiet konnte sehr früh das Christentum Eingang finden, wurde aber im 17./18. Jahrhundert vom Islam verdrängt.
1559 legte Iwan der Schreckliche die erste
Festung als Stützpunkt russischer Kosaken auf dem Kaukasus an. Einige Jahre
stationierte er das erste Kosakenheer in dieser Region. Iwan der Schreckliche
heißt auf Russisch übrigens "Ivan Groznyj".
Der Kaukasus bliebt trotzdem noch lange Zeit uneinnehmbar, weil das Krim-Khanat,
ein unter osmanischem Schutz stehendes Gebiet, als Puffer wirkte. Als dieses
Khanat 1783 an Russland fiel begann die russische Expansion auf den
Nordkaukasus. Der Islam wirkte allerdings in der Region, wie auch in anderen
Gebieten, als identitätsstiftendes Element, das die unterschiedlichen Ethnien
verband.
1785 begann ein erster religiös motivierter Befreiungskrieg der Bergvölker gegen die Russen. Anführer dieses "ghasavat" (in etwa gleichbedeutend mit "Heiliger Krieg") war der Tschetschene Mansur Uschurma.
Die "Muridenkriege" von 1834-1859 waren
ein weiterer wichtiger Meilenstein des Tschetschenischen Kampfes gegen die
Russischen Besatzer. Unter der politischen, militärischen und geistigen Führung
des Daghestaner Imams Schamil kämpften neben Daghestanern auch zahlreiche
Tschetschenen gegen die Truppen des russischen Zaren Nikolaus I.
Erst 1864 gelang Russland die "Befriedung" des Kaukasus. Man sah es
als zivilisatorische Mission an, die Russland in Asien, "wo bereits das
Kleinkind nach dem Messer greift", zu erfüllen habe.
Nach der Oktoberrevolution von 1917 machten die Bolschewiken den nationalen Bewegungen in den einzelnen Regionen weitreichente Zugeständnisse, um sich deren Unterstützung zu sichern.
Im Januar 1921 entstand die "Autonome Sowjetrepublik der Bergvölker", sie umfasste die heutigen Republiken Tschetschenien, Inguschien, Nordossetien, Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien. Diese Sowjetrepublik wurde aber schon 1924 wieder aufgelöst, vorher hatten sich aber schon autonome Regionen gebildet, darunter auch im Oktober 1922 die "Autonome Oblast Tschetschenien".
Im Januar 1934 wurde wieder einmal reformiert: die 1924 entstandene "Autonome Oblast Inguschetien" wurde mit Tschetschenien zuerst zur Tschetscheno-Inguschetischen AObl vereinigt und dann 1936 als ASSR (Autonome Sowjetische Sozialistische Republik) gegründet.
In den großen Verhaftungswellen während der
stalinistischen Säuberungen ab 1937
wurden ca. 2% der Bevölkerung festgenommen. Die angebliche Kollaboration
einiger Bergvölker mit den Deutschen im Zweiten Weltkrieg bot Stalin die
Gelegenheit, sich der widerspenstigen Kaukasier durch Deportationen zu
entledigen. Wie auch Deutsche, Krimtataren und viele andere Völker innerhalb
der Sowjetunion wurden auch die Tschetschenen kollektiv wegen angeblichen
Zusammenarbeit mit dem Feind nach Kasachstan und Mittelasien verschickt.
Nach Stalins Tod ließ die Kontrolle über die deportierten Völker nach und die ersten Tschetschenen kehrten in ihre Heimat zurück.
In seiner geheimen Rede vor dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 kündigte der neue Erste Sekretär des Zentralkommitees (ZK) der Partei, Nikita Chruschtschov, dann ausdrücklich die Rehabilitation der Kaukasusvölker der Karatschaier, Balkaren, Tschetschenen, Inguschen und der Kalmücken an.
Viele der mittlerweile in Tschetschenien angesiedelten Russen verließen das Land, die übriggebliebene russische Bevölkerung begehrte gegen die Rückkehrer auf und verlangte während viertägiger Ausschreitungen im August 1958, daß die Tschetschenen und Inguschen die ASSR wieder verlassen müßten.
Schon kurz nach der Lockerung des Sowjetsystems durch Michail Gorbatschov (1985-1991) wurde der Ruf nach Autonomie immer lauter.
Bereits vor dem offiziellen Ende der UdSSR am 27.
Dezember 1991 hatten Rußland, Weißrußland und die Ukraine am 8. Dezember das
Fundament für die am 21. Dezember 1991 gegründete Gemeinschaft Unabhängiger
Staaten (GUS) gelegt, der mittlerweile (Georgien trat erst 1993 bei) alle
Republiken außer Estland, Lettland und Litauen angehören.
Zu Beginn des Jahres 1992 herrschte eine verfassungsrechtlich verworrene
Situation. Dies nutzten die Politiker in Tschetschenien aus, um dem Land im März
1992 eine eigene Verfassung zu geben. Bereits im November des Vorjahres hatte
sich die Teilrepublik für unabhängig erklärt. Am 2. November 1991 rief der
neue tschetschenische Präsident Dudajev die unabhängige "Tschetschenische
Republik" aus, die allerdings von keinem Staat der Erde anerkannt wurde.
Dieses tschetschenische Vorgehen musste unweigerlich zum Konflikt mit Moskau führen,
das sich in seiner Nationalitätenpolitik keine Blöße geben wollte.
Moskau (und andere Staaten) stellte den Konflikt als innere Angelegenheit Russlands dar, aber die Proklamation der Unabhängigkeit war am 1.11.1991, also noch vor der Auflösung der UdSSR und das bedeutet, dass das Selbstbestimmungsrecht der russischen Verfassung noch gültig war. Jelzin stützte sich aber auf die russische Verfassung von 1993, die keinen Austritt mehr vorsieht. Aber Tschetschenien hat den Föderationsvertrag nicht unterschrieben, ist der russischen Föderation also gar nicht beigetreten.
Wenige Tage nach der Erklärung der tschetschenischen Unabhängigkeit verhängte der Präsident der Russischen Föderation, Boris Jelzin, den Ausnahmezustand über die abtrünnige Republik und schickte 2.000 Soldaten nach Groznyj, um Dudajev abzusetzen.
Allerdings ging es der Bevölkerung Tschetscheniens wirtschaftlich immer schlechter. Unter anderem weil Russlands Wirtschaftsblockade Tschetschenien zur Einstellung der erdölverarbeitenden Industrie zwang.
Nachdem der Präsident am 31. März 1992 den Föderationsvertrag mit Rußland nicht unterzeichnet hatte, machte Dudajev aufgrund der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage im Winter 1992/93 das Angebot, in die RF einzutreten, wenn Tschetschenien weitgehende Autonomie gegenüber Rußland erhielte (mit Ausnahme der Außen- und Wirtschaftspolitik sowie der Verteidigung nach außen).
Die Folge waren innenpolitische Probleme von Weltrang: Proteste und Putschversuche, Parlamentsauflösungen, Demonstrationen und Streiks.
Nachdem Ende 1993 ein weiterer Putschversuch gescheitert war, begann die mit russischen Waffen ausgestattete Opposition 1994 den bewaffneten Widerstand.
Am 9. August wurden die russischen Truppen an der Grenze zu Tschetschenien in Alarmbereitschaft versetzt, am 11. August folgte die Generalmobilmachung.
Nachdem im Oktober und November 1994 Umsturzversuche gescheitert waren, unterstützen die Russen die oppositionellen Kräfte sogar duch ihre Luftwaffe bei einem Versuch Grosnyj einzunehmen. Die Truppen Dudajevs konnten mehrere russische Soldaten gefangennehmen.
Moskau stand vor der Entscheidung Krieg oder
Frieden. Am 11. Dezember 1994 marschierten russische Truppen in Tschetschenien
ein, "um die verfassungsmäßige Ordnung wiederherzustellen".
Silvester 1994 greifen russische Truppen die tschetschenische Hauptstadt mit
Artillerie und Flugzeugen an. Bei den Kämpfen sterben Hunderte Soldaten.
Viele tschetschenische Bergdörfer werden zerstört.
Nach Vermittlung der OSZE im Februar 1995 entspannt sich die Lage ein wenig, es wird sogar ein Militärabkommen unterzeichnet.
Nach einem Attentat auf Dschochar Dudajew wird Aslan Maschadow Prsäsident Tschetscheniens. Er unerzeichnet mit Boris Jelzin am 12. Mai 1997 einen Friedensvertrag.
Im Juni 1999 kam es wieder zu Grenzkonflikten, tschetschenische Kämpfer griffen drei Posten an der russischen Grenze an.
Wenig später, im Juli, ordnet der russische
Innenminister Präventivschläge ( aha. die Russen können das auch) an, mit
denen auf die Provokationen der Rebellen geantwortet werden soll. (Mit Präventivschlägen
antworten, so, so)
Der Krieg (der zweite Tschetschenienkrieg) geht mit voller Härte los. Trotz
Kritik seitens der UNO, des Europarates und der OSZE, hält Russland an seiner
Haltung gegenüber der "abtrünnigen Teilrepublik" fest.
Offiziel endet der 2. Tschetschenienkrieg im Frühjar
2000, seitdem führen russische Truppen dort nur noch "Maßnahmen zur
Terrorbekämpfung durch". Es befinden sich zu diesm Zweck noch schätzungsweise
200.000 Soldaten in Tschetschenien.
Allerdings haben auch die tschetschenischen Rebellen eine Streitmacht von über
100.000 Mann, die sich zu große Zahl aus fundamentalistischen Moslems
rekrutieren.
Laut Kreml belaufen sich die Zahlen der russischen Opfer des Krieges bis März 2002 auf 3.770 gefallene russische Soldatenu und 12.796 Verwundete. Verlässlichere Schätzungen des Komitees der Soldatenmütter gehen von über 10.000 Gefallenen und 20- bis 25.000 Verwundeten aus.
Eine Statistik der Tschetschenischen Opfer existiert nicht.