Am Mittwoch, 28.06.2023 ging es mit der ÖBB von Linz nach Graz. Menschen im Elektrorollstuhl, Blinde und die entsprechende Assistenz wollten die Barrierefreiheit in der steirischen Landeshauptstadt kennenlernen. Referenten und Behindertenvertreter von freiraum-europa und von der IVMB (Vereinigung der Interessenvertretungen der Menschen mit Beeinträchtigungen in OÖ) machten sich auf der Südbahnstrecke auf dem Weg in einer der südlichsten Landeshauptstädte Österreichs.
Anmerkung: Die IVMB ist die gewählte Vertretung der Menschen mit Beeinträchtigungen in Oberösterreich.
Deshalb gehörte das Einsteigen mit der Ein- und Umstiegshilfe der ÖBB am HBF Linz schon zum Projekt „Erfahrungsaustausch in Graz“. Das funktionierte auch Problemlos und wir saßen in einen komfortablen Abteil. Mit dem üblichen Bordservice wardie Fahrt kurzweilig und nach 3 Stunden waren wir in Graz.
Auch hier funktionierte das Aussteigen mit Hilfe der ÖBB reibungslos und wir betraten Grazer Boden. Eigentlich nichts Besonderes, da ich einige Tage zuvor auch schon in Graz war. Somit kein großer Schritt für die Menschheit.
Das nächste Ziel war der Behindertenparkplatz vor dem Spar. Hier sollte etwas warten, was es in Linz nicht gibt. Eines von mehreren Behindertentaxis. Aber Fehlanzeige, die Behindertenparkplätze waren zwar da, aber kein Taxi. Da es aber die Smartphones gibt war diese Angelegenheit auch sehr schnell geregelt. Der Fahrer stand am falschen Ort. Beim Hotel Daniel, nur einige Minuten Gehzeit entfernt. So war er sofort beim vereinbarten Treffpunkt und ab ging es in die Schlossallee zum Cafe Eggenberg. Das Cafe ist auch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln sehr gut erreichbar, aber wir wollten das Behindertentaxi kennenlernen und damit fahren. Dieses Fahrzeug war sehr komfortabel. Da konnten neben Rollstühlen auch mehrere Personen mitfahren.
Anmerkung: Wenn in Zukunft in Österreich Taxikonzessionen vergeben werden, dann sollte das zusätzliche Betreiben von Behindertentaxis eine Voraussetzung zum Erhalt der Lizenz werden. Aber es hindert niemand eine behindertenfreundliche Stadt daran, dass von Taxibetreibern zu verlangen.
Auch das Cafe Eggenberg ist eine Augenweide. Es ist nicht nur groß, es ist riesengroß. Und hat auch einen riesigen und wunderschönen Gastgarten. Sollte es auch sein, schließlich ist das bekannte Schloss Eggenberg mit seinem wunderschönen Park nicht weit entfernt.
Hier trafen wir uns mit Robert und seiner Assistenz von SL Steiermark (Selbstbestimmt leben Steiermark) zum Essen. Da man sich in der Steiermark befindet und am Salat kein Kernöl möchte, sollte man das bei der Bestellung bekanntgeben. In der Steiermark ist das Kernöl Standard.
Das Büro von SL Steiermark befindet sich nur einige Meter vom Cafe entfernt. Man muss nur über einen schönen Innenhof auf die andere Seite wechseln. Besser kann ein Büro gar nicht liegen.
Hier trafen wir auch die Experten aus Graz, die extra von SL STMK für uns eingeladen wurden.
Frau Dr. Jutta Hochstein. Verantwortlich für Servicequalität & Innovation bei der Holding Graz. In Linz ist das die Linz AG.
Frau Dipl. Ing. Constanze Koch-Schmuckerschlag. Zuständig bei der Stadt Graz für das Referat barrierefreies Bauen bei der Stadtbaudirektion.
Herr Mag. Wolfgang Palle, Behindertenbeauftragter der Stadt Graz.
Und Herr Robert Konegger, Obmannstellvertreter von Selbstbestimmt Leben Steiermark ((SL-Stmk). Er organisierte und moderierte dieses Treffen.
Bei den Gesprächen stellten sich bald die Unterschiede zwischen Graz und Linz bezüglich Barrierefreiheit im öffentlichen Raum heraus. So gibt es einen Unterschied bei den akustisch taktilen Signalanlagen (ATAS). In Graz, so wie auch in anderen Städten in Österreich sind die ATAS in einem gewissen Zeitfenster immer aktiv. In Linz kann und muss man die ATAS mit einem Funkhandsender aktivieren. Ich kann mit beiden Systemen leben.
Wenn in Graz eine neue Kreuzung errichtet wird oder bestehende Kreuzungen erneuert werden, werden sie automatisch mit ATAS ausgerüstet. Was eigentlich der Sinn von Barrierefreiheit darstellt. In Linz ist das nicht der Fall. In Linz wird der BSV OÖ gefragt, ob etwas für Blinde getan werden muss (Typisches Beispiel: Die Ampel am Pfarrplatz für 70.000 Euro. Sie zeigt die Sekunden für die sehenden Fußgänger an, wann es Grün wird. Die Akustik für Blinde und Sehbehinderte wird aber nicht installiert. Wird nicht benötigt, obwohl hier der Verein Miteinander ansässig ist). Genauso ist es bei der Errichtung von taktilen Bodeninformationen. Aus Graz kommt auch das bekannte Grazer – T. Hier können bei Kreuzungen Menschen im Rollstuhl, mit Kinderwägen oder Rollatoren, sowie Blinde und Sehbehinderte ohne Behinderung durch Kanten, die Straße queren.
Ebenso erfuhren wir einiges über dem öffentlichem Verkehr der Holding Graz. Das im Jahr 2022 120 neue Fahrerinnen und Fahrer für die Busse und Straßenbahnen eingestellt wurden und über die Trainings dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. So arbeiten sie mit dem Alterssimulationsanzug „Gert“ und werden dadurch um 30 Jahre älter. Und können dadurch ein Verständnis für das älter werden bekommen und wie sich solche Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln fühlen.
Anmerkung: Der Alterssimulationsanzug GERT bietet die Möglichkeit, die typischen Einschränkungen älterer Menschen auch für Jüngere erlebbar zu machen.
Die altersbedingten Einschränkungen sind:
■ Eintrübung der Augenlinse
■ Einengung des Gesichtsfeldes
■ Hochtonschwerhörigkeit
■ Einschränkung der Kopfbeweglichkeit
■ Gelenkversteifung
■ Kraftverlust
■ Einschränkung des Greifvermögens
■ Einschränkung des Koordinationsvermögens
Der Preis für solche Alterssimulationsanzüge liegt bei etwa 1400 Euro. Solche Anzüge sollten eigentlich alle Verkehrsunternehmen für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Programm haben.
Link zu einem Alterssimulationsanzug: https://www.produktundprojekt.de/alterssimulationsanzug/?gclid=CjwKCAjwzJmlBhBBEiwAEJyLu8oO29oDMMok3q3cDTU-BxOlPwrKC7HFwWvluPGCw8vcwBA6mrbyPRoCOnsQAvD_BwE
Als ich von den eigenartigen „selbstdefinierten Linzer Standards“ erzählte, löste das einiges Schmunzeln aus. Es gibt die „Austrian Standards“ also die sogenannten Ö-Normen. Linz hält sich nicht an diese Normen, schließlich haben sie dem „Standard Linz“. Wenn also die Lautstärke bei akustisch taktilen Signalanlagen nicht der Ö-Norm entspricht, greift sofort der „Linzer Standard“ und es passt wieder alles. Das ist kein Scherz.
Anschließend ging es mit Frau Dr. Jutta Hochstein von der Holding Graz zum Praxistest durch ihre Stadt. Hier konnten die Fahrerinnen und Fahrer zeigen was sie bei den Trainings gelernt haben.
In Graz können die Aufmerksamkeitsfelder oder Einstiegsfelder von allen Menschen mit Behinderung genützt werden. Bei diesem großen, genoppten Feldern bleiben die öffentlichen Verkehrsmittel mit der ersten Tür stehen. Wenn nun eine als Beeinträchtigt erkennbare Person (Rollstuhl, Blindenstock, Rollator, Gehhilfen etc.) auf diesem Feld steht, wird vom Fahrpersonal Hilfe angeboten. In Graz wurden bei unseren Fahrten immer die entsprechenden Unterstützungen angeboten. Schließlich brauchten wir für den Elektrorollstuhl die Rampe zum Ein- und Aussteigen. Beim Aussteigen war das Fahrpersonal sofort zur Stelle und bot die Unterstützung an. In Graz gibt es zwei Arten von Rampen. Eine, die wie in Linz, im Boden eingelassen ist und die zweite Variante befindet sich in einer Seitenwand bei der Tür.
Die letzte Fahrt an diesem Tag in Graz führte uns zurück zum Hauptbahnhof. Die Straßenbahnhaltestelle beim HBF ist sehr groß und es bleiben sehr oft mehrere Straßenbahnzüge hintereinander stehen. Was passiert, wenn ganz vorne am Noppenfeld eine Person mit Behinderung Steht?
Die nachfolgenden Straßenbahnen oder Busse müssen beim Noppenfeld anhalten, die Tür öffnen und die wartende Person fragen, wohin sie fahren will. Das ist übrigens eine Dienstanweisung an das Fahrpersonal. Das könnte man in Linz auch so handhaben. Passiert wahrscheinlich aber nicht. Zumindest habe ich davon noch nichts bemerkt. Bei den Bushaltestellen Kärntnerstraße, Taubenmarkt oder Goethekreuzung wäre so eine Maßnahme sinnvoll.
So wie in Linz, gibt es auch am HBF in Graz einen Sparmarkt. Auch hier gibt es merkliche Unterschiede im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Der Umgang in Graz beim Sparmarkt ist um einiges freundlicher und kompetenter als am HBF Linz. Auch wenn viel Betrieb ist, nehmen sich die Angestellten Zeit für dich und führen dich durch das Geschäft. Und man merkt, dass hier ein langjähriges Personal im Einsatz ist, die schon oft mit Menschen mit Behinderung ihre runden im Geschäft gezogen haben. Mir wurde auch die Bedienung der Selbstbedienungskasse gezeigt und vorgeführt. Wenn der Touchscreenmonitor nicht wäre, wäre dieses System auch für Blinde und Sehbehinderte zu bedienen. Man würde etwas länger brauchen. Und was mich überrascht und gefreut hat, war die Bedienung bei der Fleischtheke. Nachdem ich meine Bestellung erhalten hatte, wurde ich von der Dame hinter der Theke gefragt, ob ich noch etwas brauche und ob sie mich begleiten kann?
Wird mir zur Zeit in Linz am HBF sicher nicht passieren. Jedenfalls sind mir Beschwerden von Blinden und Sehbehinderten bekannt, die mit dem Umgang mit ihnen nicht bis gar nicht zufrieden sind. Das hängt vielleicht auch mit der Fluktuation des Personals zusammen. Vielleicht könnte hier ein geballtes Auftreten von Menschen mit Behinderung ein Umdenken bewirken. Funktioniert ja im Billa bei der Herz Jesu Kirche hervorragend. Durch die Nähe zum RISS und BBRZ haben sie ständig Kontakt mit dieser Personengruppe und das bewirkt automatisch einiges. Natürlich gehört die soziale Kompetenz jeder einzelnen Person auch dazu. Wenn man es nicht drauf hat, dann hilft auch keine Schulung. Ich habe diesbezüglich keine Probleme beim Einkaufen. Wenn ich zum Beispiel in meinem Stammgeschäft Hilfe brauche, dann läute ich bei der Flaschenrückgabe und warte auf das Personal.
Was am HBF Graz genauso gut funktioniert wie am HBF Linz ist der Umgang mit erkennbaren Blinden und Sehbehinderten. In der Kassenhalle kommt das ÖBB-Personal eigentlich schnell auf dich zu und bringt dich zu deiner gewünschten Ansprechstelle und begleitet dich wieder raus. Das funktioniert in Linz auch sehr gut.
Aufgefallen ist mir auch, dass in Graz bei den Haltestellen keine gelbe oder weiße Sicherheitsmarkierung angebracht ist. Die Erklärung ist ganz einfach. Den Grund haben die historische Semmeringbahn und die traditionsreiche Grazer Altstadt gemeinsam. Sie sind UNESCO Weltkulturerbe. Und da wären nur sehr helle graue Markierungen erlaubt. Was Sehbehinderte nichts bringt und für Blinde eh sinnlos ist.
Und was noch besonders auffällt. In Graz wird ein anderer Umgang mit Menschen mit Behinderung gepflegt. Freundlich, nett und hilfsbereit. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass Graz eine sehr alte Universitätsstadt, die immer sehr viele junge Menschen in die Stadt bringt, ist. Wogegen Linz eine Arbeiterstadt ist und immer bleiben wird. Was aber nicht heißen soll, dass es in Linz keine netten, freundlichen und hilfsbereiten Menschen gibt. Aber es ist ein anderes „Auf dich zukommen“.
Was es in Graz noch gibt, ist die Möglichkeit, nicht barrierefreie Gehsteige bei der Stadt Graz zu melden. Sollte es in jeder Stadt geben.
Um 16:56 Uhr ging es dann zurück nach Linz. Und jetzt gab es ein Problem. Das Zugabteil mit dem barrierefreien Stellplatz war nicht vorhanden. Trotz Hinweis in der App Scotty. Es wurde ein Wagen der Schweizer Bahn angehängt. Da es aber nicht unser Problem war, mussten sich die Fahrgäste beim breiten Elektrorollstuhl vorbeischieben. Da half auch das Spiel mit den Rangierproblemen am Bahnhof. Wer kann sich noch daran erinnern?
Jedenfalls verlief die Rückreise nach Linz auch wieder sehr schnell und wir kamen pünktlich am HBF Linz an. Wir nahmen viele positive Erkenntnisse aus Graz mit. Besonders, das Graz im Bezug auf Barrierefreiheit gegenüber Linz um Jahre voraus ist. Das hängt natürlich mit den handelten Personen zusammen. Die hier ihre Ideen, ihre Erfahrungen einbringen. Die den Mut haben etwas neues zu probieren und auch den Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen. Und die eine aufgeschlossene und mutige Bürgermeisterin haben.
Ich persönlich bin dafür und werde mich dafür auch stark machen, dass zum Beispiel der nächste Behindertenbeauftragte der Stadt Linz eine „weisungsungebundene“ Person sein muss. Ein pragmatisierter Magistratsmitarbeiter ist für solche wichtigen Tätigkeiten völlig ungeeignet. Schließlich handelt er wahrscheinlich im Sinne des Arbeitgebers und nicht im Sinne der Behinderten. Und wenn er faul oder inkompetent ist, kann ihm auch nichts passieren.
Wir bedanken uns bei Selbstbestimmt Leben Steiermark und den Expertinnen und Experten der Stadt Graz, dass sie sich die Zeit für uns genommen und viele positive Einblicke in ihre Stadt gegeben haben. Die wir auch nach Linz tragen werden. Vielleicht wird es Widerstand geben, auch von Behinderteneinrichtungen, die bis jetzt eine ruhige Kugel geschoben haben. Mut kann man sich halt nicht kaufen.
So gibt es für mich keine Aufmerksamkeits- oder Einstiegsfelder, sondern nur mehr Noppenfelder. Und die sind nicht nur für blinde und Sehbehinderte, sondern für alle Menschen, die die entsprechende Hilfe beim Ein- und Aussteigen in die Öffis benötigen.
Die Idee zu dieser Grazfahrt kam mir, als ich im Internet auf das Handbuch „Bus und Bim für alle“ der Holding Graz gestoßen bin. Eine umfangreiche und auch barrierefreie Broschüre über das öffentliche Verkehrsnetz in Graz. So etwas umfangreiches und übersichtliches findet man natürlich in Linz auch nicht. Und da war meine Frage: Was können die in Graz, was man in Linz nicht kann? Die Linz AG und die Stadt Linz können mich gerne vom Gegenteil überzeugen.
Jedenfalls gehört die Behindertenarbeit in Linz und in OÖ komplett neu aufgestellt und aufgebaut. Hier wurde in den letzten Jahren nichts weitergebracht. Da muss man sich jetzt ein Beispiel an Graz nehmen. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als eine betrügerische Dame die SLI OÖ in den Ruin getrieben hat und damit viele positive Ideen und Projekte mitgenommen hat. So wurde damals auch die inklusive . Theatergruppe „ESSELLISSIMO“ mitgerissen.
Und das positivste Erlebnis kommt zum Schluss. Es kam zu einem Wiedersehen nach fast 40 Jahren.
Beim Essen im Cafe Eggenberg stellte sich heraus, dass Robert Konegger und ich von 1984 bis 1986 im BBRZ Linz die Ausbildung zum Bürokaufmann absolviert haben. Wir waren im selben Lehrgang, aber in Parallelklassen. So konnten wir uns schon einmal über unsere ehemaligen Lehrer austauschen. Jedenfalls haben wir unsere Berufung in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung gefunden. Und man trifft sich im Leben immer zwei Mal.
Link zum Bericht bei SL Steiermark: https://www.sl-stmk.at/de/aktuelles/meldungen/2023-06-28-Gaeste-Linz-Barrierefreiheit.php
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© Juli 2023 by Gerhard Hojas